Mittwoch, 24. Juni 2015

Begegnung mit dem Yeti

Yeti.... Ich! Ich! Ich! Ich habe ihn gesehen. Er existiert. Wirklich.

Es ist ein Mann in brauner Cordhose, welche an den Knien leicht ausgebeult ist. Darüber trägt er einen Arbeitskittel in einem strahlenden Blaumannblau. Auf dem Kopf hat er eine Schiebermütze, aus der verschmitzt sein graues Haar blitzt. Er steht auf einer Leiter und repariert an der Front seiner Heimstatt. Er arbeitet konzentriert und blickt sich nicht um. Er merkt nicht, dass ich meinen schnellen Schritt abrupt unterbreche und wie angewurzelt stehe. Und die Augen aufreiße, bevor mir ein nervöses Grinsen über das Gesicht huscht. Ich greife zum Handy und nestle an der Kamerafunktion herum, schieße schnell ein Foto. Aus der Ferne. Ich traue mich das nicht aus der Nähe. Ich schicke das Bild meinem Bruder und er reagiert sofort: "dor yeti of se kleinstadt?!?!" Das seltsame Denglish erklärt sich vermutlich aus seinem nicht minder zwischen Euphorie und Schock gefangenen Zustand, dass mir der Fotobeweis gelungen ist.

Dieser Mann ist "Dreller, Klaus"* Der Mann, der nie existierte. Der "Bourne, Jason" meines, unseres Lebens. Eine Geschichte mit vielen Episoden. Eine Legende auf kleinem Raum. Der Mann, den niemand kennt. Ein Mann, den nie jemand gesehen hat. Mein Großvater hat oft von ihm erzählt. Ich habe nie an ihn geglaubt. In meiner Erinnerung hat Opa trotzdem fast jeden Tag von ihm gesprochen. Unbeirrt von meinem verzogenen Lächeln und den rollenden Augen, sobald die Sprache auf "Dreller, Klaus" kam. Ist es eine Frage der Generation oder der Kleinstadt? Mein Opa, über 90 Jahre alt, gehört zu denen, bei denen erst der Nachname und dann der Vorname genannt wird. Was schwieriger zu verstehen wird bei Menschen mit Vornamen-Nachnamen wie "Jacob" oder "Paul" oder "Klaus" ... 

Aber lassen wir das ... "Dreller, Klaus" gab es nur in dieser Wortkombination und er war für mich und meine Brüder lange ein belächeltes Phänomen im unentwegten Redefluss meines Opas. So wie wenn ich als Teenager von einer Freundin einer Freundin erzählte und eigentlich mich selbst meinte. Oder meinen Brüdern was Dummes passierte, weil der Freund von einem Freund das angeblich gemacht und auf sie geschoben hatte. Genau so hatte "Dreller, Klaus" für uns Stellvertreterfunktion. Was hatte der nicht alles schon gedacht und laut ausgesprochen, dieser "Dreller, Klaus"? Diese und jene Frau war wohl auch dabei. Feiern auch, mit Filmriss mitunter. Kleine Alltagsanekdoten türmten sich bei "Dreller, Klaus". Und so viel Wissen. Er war überall dabei, wenn die jüngere Weltgeschichte die Kleinstadt streifte und müsste demnach zirka 150 Jahre alt sein. Er konnte alles, der Dreller, zumindest wusste er alles mindestens besser. Und wenn Opa von ihm sprach, so glaubten wir, dass er von sich selbst sprach und sich Dreller nur ausgedacht hatte. Wie wir wurde auch unser Vater älter, fing an seine Kollegen erst beim Nach- und danach den Vornamen zu nennen und beteuerte eines Tages, dass "Dreller, Klaus" existieren würde. Darüber lächelten wir. Selbst eine Adresse nannte er, an der man den Dreller finden könne. Keiner von uns überprüfte das. Einen Mythos (zer)stört man nicht. Eine so schöne Lüge überführt man nicht. Und dann steht er plötzlich da. Auf der Leiter. Konzentriert und vertieft in seine Arbeit. Man stört ihn nicht. Man geht einfach weiter. Und teilt das Beweisstück nur mit seinen Lieben.

* Aus Rücksicht auf den Yeti habe ich seinen bürgerlichen Namen verfremdet.  

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