Dienstag, 18. Oktober 2016

Das schönste Gefühl der Welt

Wohlwollend formuliert: Sie zieht eine Schnute. In Wirklichkeit: Es ist ein Flunsch. Meine kleine Nichte ist vier Jahre alt. Sie sitzt auf einem Stuhl in einer Küche in einem Ort mitten im Nirgendwo Brandenburgs - dieser Ort ist für mich besser bekannt als der schönste Ort auf Erden. Und sie zieht einen Flunsch. 

"Ich habe Langeweile", verkündet meine Nichte und zieht damit mal für einen kurzen Moment ihre Mundwinkel nach oben, lässt die Schultern gleichzeitig noch tiefer sinken. Dann flunscht sie weiter. "Das ist doch schön", sagt ihr Vater, mein ältester Bruder. "Genieß es. Du wirst nie wieder Langeweile haben, wenn du erwachsen bist."

Mein Bruder ist der klügste Mann auf Erden, denke ich. Recht hat er ja auch oft. In diesem Fall bestimmt. Ist man erwachsen, kommentiert man vielleicht einige Dinge mit "Laaaaaaangweilig!" und findet einige Dinge auch wirklich langweilig. Diverse Arbeiten auf Arbeit und im Haushalt. Diverse Produktionen im Fernsehen. Einige Bücher. Oder Bücher grundsätzlich. Vielleicht geht man sogar so weit, bestimmte Menschen langweilig zu finden. Oder die eigene Beziehung und/oder das Sexleben. Vielleicht führt man ein langweiliges Leben oder meint, ein langweiliges Leben zu führen. Aber wirkliche echte Langeweile, eine wie meine Nichte sie gerade hat, hat man nicht.  Pure Ödnis im eigenen Tun und Denken ist fremd und fern, wenn man erwachsen ist.

Es gibt immer was zu tun. Oder - schlimmer noch - was zu denken. Einfach mal mit einem Flunsch auf einem Küchenstuhl sitzen zu können und die pure Langeweile zu empfinden, das ist uns Erwachsenen nicht mehr vergönnt. Wenn man erwachsen ist, geht man arbeiten und verdient Geld, um Rechnungen und Dinge zu bezahlen, die einem das Leben als Erwachsener so einbrockt oder die man meint als Erwachsener haben zu müssen. Man denkt und denkt und denkt. Man macht und tut, und tut und tut. Macht und tut man mal nicht(s), denkt man über das nach, was man gemacht und getan hat oder noch machen und tun müsste ... und könnte ... oder sollte. Die Wohnung renovieren. Mehr Geld verdienen. Noch ein Projekt anschieben. Die Steuerunterlagen abheften. Den Kleiderschrank ausmisten. Einen Termin vereinbaren. Bei der Autoversicherung sparen. Fix noch Milch kaufen gehen.

Oder man pflegt ein Hobby. Nichtstun zählt für Erwachsene nicht als gutes Hobby. Alles darf aufkommen - bloß keine Langeweile. Man muss irgendwie immer irgendwas tun oder zu tun haben, wenn man erwachsen ist. Sich mit Leuten treffen. Sich unterhalten und unterhalten lassen. Ausgehen. Oder zum Sport. Wellness. Eine Gurkenmaske ist höher angesehen als Langeweile. Man muss was für die eigene Bildung tun. Man muss was gegen das kleine Bäuchlein tun. Einen Tatort sehen, über den am Montag auf Arbeit dann jeder spricht oder sprechen sollte. Man muss im Internet surfen und übellaunige Diskussionen bei Facebook verfolgen. Man muss informiert sein. Oder man meint zu müssen.

Aber niemand gibt zu, dass man sich mal auf den Küchenstuhl setzen, dem Vakuum Raum geben und so richtig Langeweile haben müsste. Es gibt dann nichts zu tun und man hat nichts zu denken. Es ist nichts los. Das schönste Gefühl der Welt.