Freitag, 23. September 2016

Besoffene Räder

Das wäre jetzt alles nur halb so stressig, wenn ich vernünftige Unterhosen tragen würde. „Deine Schlübber geht ja gar nicht mal übern Po“, wird meine vier Jahre alte Nichte in ein paar Tagen mahnen. Noch ahne ich nichts davon.

Es ist Samstag in Brandenburg. Morgens. 5 nach 9. Ich bin allein und sitte das Haus meiner Familie. Bruder, Schwägerin, Neffen und die Nichte mit dem erhobenen Zeigefinger, der auch noch am letzten bisschen Schlübberstoff zupft, sind im Urlaub.  Die vergangenen sieben Tage war ich allein und es ist gar nichts passiert.

Also es ist schon was passiert. Die Sonne ging auf und unter. Wolken haben sich übers Blau geschoben. Die Hühner haben draußen im Garten gepickt. Die Katzen haben rumgelegen. Ich hatte im Kern der Sache nicht viel mehr zu tun, als meinen Stoffwechsel zu betreiben. Es ist wirklich nichts passiert.

Auch nicht in diesem meiner Generation so blöde anhaftenden Selbstfindungssinne, bei dem man über sich und das eigene Leben nachdenkt, als gehöre das so pflichtgemäß zur Existenz wie Rechnungen bezahlen und arbeiten gehen. Will heißen: „In mir“ - man soll ja immer schön nach innen horchen - ist auch nichts passiert. Ich glaube, ich habe nicht mal nachgedacht. Da wäre nichts in mir zu hören gewesen. Ich war da. Sonst war nix.

Und nun bricht dieser Stress los. Es ist 15 nach 9. Ich habe einen wichtigen Termin. 9.40 Uhr kommt der rollende Bäcker ins Dorf. Ich brauche Brot. Der Stoffwechsel ruft danach. Und ich habe nur eine Schlübber an, die nicht mal den Po bedeckt und ein Shirt mit einem Fettfleck drauf. Okay. Ich bin in Brandenburg, aber so kann ich nicht die rund 300 Meter vor zum Stellplatz des rollenden Bäckers gehen. Eine Kittelschürze sollte ich mir wenigstens überziehen.

Ich habe keine. Es ist 22 nach 9, als ich diese Erkenntnis gewinne. Und Lust auf einen Kaffee. 26 nach 9 spuckt die Pad-Maschine mir die Tasse aus. Die Ereignisse überschlagen sich. Ich bedecke meinen Hintern mit einer Shorts. Ich schlürfe Kaffee.

Käffchen. Erstmal Käffchen.
Es ist 33 nach 9. Schulzens Bärbel - die Nachbarin, eine kleine Frau mit Grübchen und Rentenbescheid - rollt mit ihrem Fahrrad Richtung Verkaufsplatz an der Bushaltestelle los. Ich werde Schlange stehen müssen, meine Synapsen feuern grad wie wild. Schulzens Bärbel mit ihrem prallen Stoffbeutel am Lenker ist uneinholbar.

Schicker Lack. Aber keine Chance gegen Bärbel.

35 nach 9 steige ich aufs Rad. 36,5 nach 9 bin ich da. Schulzens Bärbel ist da, ein halbes Dutzend anderer Frauen sind da. Gerade habe ich den Altersdurchschnitt auf 60 Jahre gedrückt. Ich grüße reihum alle und wünsche "Guten Morgen". Mit Nicken nimmt man mich zur Kenntnis.

39 nach 9. „Jetzt müsste er um die Ecke kommen“, sagt die Frau in der zerschlissenen Jeans. So weit ich mutmaßen kann, trägt sie eine ordentliche Schlübber. Zumindest eine, die den Po bedeckt. Kein Wagen zu sehen. 43 nach 9. „Nicht, dass die in Wiese wieder das ganze Brot wegkaufen“, sagt die in der Kittelschürze. Panik steigt in meinem Stoffwechsel auf.

46 nach 9. Ein Mann in Cordjacke, gerade eben stand er noch mit den kittelbeschürzten Damen unter dem Dach der Bushaltestelle, kommt auf mich zu. „Die Damen und ich, ja, wir rätseln grad“, deutet er auf vier Frauen hinter sich. „Wir rätseln, wer sie eigentlich sind!?“ Meinen Namen zu nennen, macht jetzt keinen Sinn. Ich wollte nie Zahnarztgattin werden, jetzt stelle ich mich vor als „Ich bin die kleine Schwester vom Steinmetz.“ 47 nach 9. Eine Diskussion bricht los. „Blöde Frage, sag mal! Das sieht man ja wohl, guckste mal die Oogen, der Schelm is drinne“, sagt die Frau in den zerschlissenen Hosen. „Dit is doch nich das erste Mal, dit die hier is“, zeigt Schulzens Bärbel dem Mann einen Piepvogel. Ihre Grübchen sind einen Zentimeter tief. „Na aber, wir waren uns jetzt nicht sicher, wir wohnen ja am anderen Ende vom Dorf“, verteidigt sich der Mann.

"Meine" Seite vom Dorf.
52 nach 9. „Läuft ein Graben durch mein Idyll? Ist dies ein zweigeteiltes Dorf?“, frage ich mich. „Der Thomas is doch in Frankreich“, erläutert Schulzens Bärbel kenntnisreich. 53 nach 9. Ein Fahrrad fällt um. Ein Beutel mit Birnen hing am Lenker. Schlecht fürs Gleichgewicht. Lecker Saft. Bärbel stürzt los, die gefallenen Früchtchen zu bergen. „Dein Fahrrad ist besoffen“, lacht die Frau in den Jeans.

„Is ja gar nich meins“, erwidert Bärbel und lacht noch lauter. „Is deins! Dein Fahrrad is besoffen!“ 54 nach 9. Wessen Fahrrad besoffen ist, kann vorerst nicht geklärt werden. Der Bäcker kommt. Ihm folgt das Fleischer-Mobil. 55 nach 9 haben beide die Wagen geparkt, die Klappen gehen auf. Vier Brote noch. Und fünf Frauen vor mir. Als ich über den Alkoholgehalt von Diamant-Rädern nachdachte, haben sich die alten Frauen von der Bushaltestellenbank wohl an mir vorbei geschoben.

58 nach 9. Die Frau vor mir kauft das letzte Sonnenblumenkernbrötchen. 59 nach 9. Ich wähle vier normale Brötchen aus der Palette von ganzen acht normalen Brötchen. Ich bin selig. Keine Wahl zu haben, ist schön. „Beutel?!“, fragt die Bäckersfrau. „Haste? Oder haste nich dran gedacht, wah?“, mischt sich Bärbel ein, „kannste aber meinen nehmen, hängt am Rad!“ Ich winke ab. Stolz recke ich meinen Stoffbeutel in die Höhe und die Bäckersfrau nickt. Anerkennend, meine ich. 

3 nach 10. Ich winke Schulzens Bärbel und wünsche einen schönen Tag. Sie fährt noch 15 Meter weiter. Ich biege ab. Ich schreibe meinem kleinen Bruder, was gerade alles passiert ist. Er sagt, ich soll mich erstmal ausruhen. Ich suche eine Schlübber mit Stoff überm Po und leg mich wieder hin. Hoffentlich passiert nix.