Donnerstag, 17. August 2017

Kleine Last auf den Schultern

Nur er und ich. Okay. Gerade haben wir zusammen eine Feier besucht. Auch okay. Nun wollen wir den Weg zurück gemeinsam gehen. Allein. Nur wir zwei. Sehr okay. Er könnte mein Sohn sein.

Er ist mein Neffe. In wenigen Tagen wird er drei. Die Feier war die Geburtstagsfeier seiner Oma, meiner Mutter. Ich kenne seinen Gesichtsausdruck von Schwarzweißfotos auf denen mein ältester Bruder, sein Vater, zu sehen ist und irgendwie fühlt sich das Zusammensein mit ihm wie verkehrte Welt in schön an.

Der Weg zurück ist locker zwei bis drei Kilometer lang. Dass drei Spielplätze auf dem Weg liegen, ist Anreiz genug. Anreiz für die ersten Schritte. Schnell wird er fußlahm und will getragen werden. „Auf der Schulter so wie bei Papa“, sagt er. „Hm, aber ich bin nicht dein Papa“, sage ich. „Weiß ich“, meint er. „Was ich damit sagen wollte: Ich glaube, ich habe die Kraft dafür nicht“, beende ich meine Rede. „Auf der Schulter so wie Papa“, wiederholt das Kind. Ich versuche es. Was wiegt so ein Kind von fast drei Jahren? 30, 40 Kilo? Könnte hinkommen, so fühlt es sich jedenfalls an.

Ich kriege ihn nicht gehoben, jedenfalls nicht bis rauf auf meine Schultern. „Musst du runter kommen“, rät er. Mache ich und gehe ganz tief in die Hocke. Er klettert auf meine Schultern und ich stemme uns einer rumänischen Gewichtheberin gleich in den aufrechten Stand. Ich laufe los.

Spielplatz. Am Klettergerüst ist der Abstieg leicht. Wir schaukeln, rutschen, machen, tun. Auf dem Spielplatz sind noch andere. Das kleine Mädchen hat nicht begriffen, dass die Schwester zwar „Anna-Lena“ heißt, aber doch nur eine Person ist. „Mammahhh, Anna-Lena sind schon wieder auf der Rutsche“, krächzt das Kind seiner Erziehungsberechtigten entgegen. Die ist in Handy und Zigarette vertieft und Singular und Plural sind vermutlich eh nicht ihr Interessengebiet. „Anna-Lena sollen das doch nicht“, mahnt das Kind. „Mammahhh“ zuckt nicht.

Den Neffen scheint es noch mehr zu nerven als mich. „Weiter“, befiehlt das Kind und streckt die Ärmchen aus, ihn doch wieder auf die Schulter zu nehmen. „Klettergerüst!“, sage ich. Er nickt. Er hat verstanden. Weiter gehen wir.

Spielplatz. „Da ist ja gar keine Rutsche“, schnauft das Kind auf meinen Schultern, „das macht mich traurig.“ Ob wir denn dann überhaupt anhalten müssen, frage ich ihn. „Nee“, meint er, „ich bin immer noch traurig darüber.“ Ich habe ein schlechtes Gewissen.

Ich trotte weiter, immer weiter geradeaus, den Blick stoisch nach vorn gerichtet. Er hält mir die Haare aus der Stirn, damit ich gucken kann. „Haare aus dem Gesicht halten ist wichtig“, sage ich, „falls mal deine Schwester oder deine Freundin nach einer wilden Party oder so kotzt, hilfst du so am meisten.“ „Ja, weiß ich“, sagt er.

Er will anderes besprechen. „Guck mal, da hinten war ein Hund“, sagt er und ich merke, wie sich der kleine Körper auf meinen Schultern in die der Laufrichtung entgegengesetzte Richtung verschraubt. „Hm, will ich jetzt nicht gucken“, murre ich. Das Kind wird seit mindestens 800 Meter extrem schwer. Ich will nur noch ankommen. „Guck mal, da hinten war ein Fluss, ein großer!“, freut sich das Kind und verschraubt sich wieder. „Ich kenne mich hier aus. Hier ist kein großer Fluss“, sage ich. Das Kind schnaubt ein genervtes „pfffffffff“.  „Guck mal, da ist wieder ein Hund“, verschrauben sich die 50 Kilo auf meiner Schulter nach hinten. Ich drehe mich auch nach hinten. „Jetzt is er weg“, bedauert das Kind. „Ich sehe ihn“, sage ich und drehe mich wieder um. „Ich auch“, frohlockt er jetzt.

Springbrunnen hier, Hund da, Mensch dort, Ball drüben. Wieder und wieder drehen wir uns. Bis zum dritten Spielplatz. Da haben Jugendliche auf einer bunten Sitz- und Spielgruppe ein paar Alkopops so aufgedreht wie ihre Musik. Über ihren Lärm und ihr „Gesaufe“ beschwert sich immer wieder mal wer in der Nachbarschaft und im Internet. Mein Neffe steigt von meinen Schultern, nimmt eine Partie auf der Rutsche und geht rüber zu den Jugendlichen. „Ich geh zu den Jungs“, schreit er noch quer über den Platz während ich den Gehweg nehme. Er setzt sich zu den Jungs und sagt:„Hallo!“ Die Jungs gucken. Nach mir, der Frau, die nichts macht, nichts sagt, das Kind nicht holt. „Hallo!“, wiederholt der Kleine. „Hallo“, nuschelt wer zurück. Die Musik wird leise gedreht, die Flaschen beiseite geräumt. Der Kleine nickt zufrieden. Als wäre er hier der Blockwart. Er steht auf und geht, winkt den Jungs und die winken zurück, er kommt zu mir auf den Weg. „Nochmal auf die Schultern?“, frage ich und gehe schon in die Hocke. „Nee“, winkt der Junior ab, „aber nich traurig werden“. Meine Schultern hängen noch schwerer. Das Kind wird größer.